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„Metal Gear Solid V: The Phantom Pain“: Kritik zum Open-World-Stealth-Game

Nach knapp zwei Jahren habe ich mir endlich mal wieder ein Videospiel am Veröffentlichungstag beschafft. Am 1. September erschien der fünfte Hauptteil der Metal Gear Solid-Reihe – und als großer Fan gab es für mich kein Vorbeikommen am vermutlich letzten, „echten“ MGS. Die Presse überschlug sich mit Lob, einige Fans sind im Nachhinein enttäuscht. Dennoch ist The Phantom Pain in meinen Augen ein grandioses Spiel geworden.

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„Metal Gear?!?“
Metal Gear Solid ist ein eigener Kosmos, der sich Außenstehenden nicht erschließt. Man muss diese Reihe möglichst von Anfang an begleitet haben um zu begreifen, was an ihr so faszinierend, mitreißend und eigenständig ist. Und man braucht das gesamte Vorwissen über die Geschehnisse von MGS 1 bis (und bestenfalls auch noch aller anderen Ableger), um die Tragweite und Bedeutung der Story von Teil fünf zu begreifen. Sich jeglicher chronologischer Ordnung entziehend füllt diese nämlich die ziemlich große Lücke zwischen der Vorgeschichte (MGS 3 und Peace Walker) und der Hauptgeschichte (MGS 1, 2 4), spielt somit im Jahre 1985 und will die Frage beantworten, wie die für die gesamte Reihe so relevante Figur Big Boss zur Legende und zum späterem Antagonisten geworden ist.
Wer mit all dem nichts anfangen kann, der wird beim Versuch MGSV zu spielen vor einer unüberwindbaren Story-Mauer stehen. Zwar ist das Spiel dann trotzdem noch spielbar. Aber ohne den narrativen Kontext der Vorgänger verliert es doch zu sehr an Reiz und Relevanz. Wer diese Lücke in seiner Videospiel-Allgemeinbildung füllen möchte – und das möchte ich wirklich jedem ans Herz legen, auch wenn ich es nachvollziehen kann, dass man mit der teils haarsträubend bekloppten Story und dem anstrengenden Storytelling nichts anfangen kann –  der sollte das unbedingt tun, bevor er sich jemals The Phantom Pain widmet. Wer jedoch bereits zu dieser erlauchten Gruppe gehört: herzlichen Glückwunsch, ihr seid nicht nur die besseren Menschen, MGSV dürfte für euch auch zum Besten gehören, was das Spielejahr 2015 bisher hervorgebracht hat.

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Säule 1: Die Welt
Was zunächst einmal betont werden muss: The Phantom Pain wählt im Vergleich zu seien Vorgängern einen gänzlich anderen, fast schon konträren Ansatz – sowohl ludisch als auch narrativ. Statt den Spieler erneut über 10 bis 20 Stunden hinweg durch gradlinige Level zu führen, folgt man diesmal stärker aktuellen Game Design Trends und entlässt uns eine Open World, die sich in zwei große Gebiete aufteilt: das wüstenähnliche Bergland Afghanistans und Afrikas Savanne. Anfänglicher Zweifel zum Trotz zeigt sich hier eine der größten Stärken von MGSV. Zum ersten sind diese Gebiete wunderschön modelliert und sehen dementsprechend extrem gut aus. Zum zweiten gibt es zwar auch in The Phantom Pain unglaublich viele Nebenaufgaben (eigentlich sogar zu viele), doch die Welt fühlt sich insgesamt „freier“ an als das typische Großstadtsetting von GTA 5 et al. und wirkt eher wie eine aufgepumpte Version von Red Dead RedemptionHeißt: keine Häuserschluchten, sondern weitestgehend offene Flächen, in denen große Basen und kleinere Außenposten im idealen Abstand zueinander platziert sind. Zum dritten – und das ist das wirklich Herausragende – gelingt es dem Spiel, zwei vermeintlich unvereinbare Spielprinzipien perfekt miteinander zu verbinden: Open World und Schleichen.

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Säule 2: Spielmechanik
Das ist dann auch die zweite große Stärke von MGSV: Die Spielmechanik funktioniert dieses mal tadellos. Wo die Vorgänger größtenteils mit massiven Problemen bei der Steuerung zu kämpfen hatten, spielt sich The Phantom Pain extrem flüssig und genau so präzise. Zugleich bietet es dem Spieler alle denkbaren Möglichkeiten, eine Mission anzugehen. Ob man nun an allen Gegnern vorbeischleicht, sie betäubt, leise ausschaltet oder wie ein Panzer bewaffnet die Basis stürmt, ob aggressiv oder geduldig, ruhig oder laut, bleibt einem selbst überlassen und in den meisten Fällen gelingt das jeweilige Vorgehen auch. Der äußerst hilfreiche Zeitlupenmodus, der im Falle einer Entdeckung aktiviert wird, verzeiht zudem kleinere und größere Fehler.
Die Vielfältigkeit der Vorgehensweisen ergibt sich außerdem aus dem gewaltigen Arsenal an Waffen und Gerätschaften, die sich über dutzende Waffenarten und Granatentypen, diverse Gadgets, vier völlig unterschiedliche Begleiter sowie Luft- und Feuerunterstützung in zahlreichen Formen und Farben erstrecken. Wer, so wie ich, eine strikte Vorgehensweise bevorzugt, wird hier ebenso glücklich werden wie diejenigen, die gerne experimentieren. Letzteres sollten aber selbst Hardliner gelegentlich tun: die Gegner werden im Verlaufe des Spiels nämlich immer einfallsreicher.

Säule 3: Basisausbau
Das dritte Standbein von The Phantom Pain ist neben der Hauptspielmechanik der Ausbau der eigenen Söldnerbasis. Die will nicht nur mit Ressourcen, die sich v.a. während der Aufträge einsammeln lassen, erweitert, sondern auch mit Personal gefüttert werden, das man durch das Entführen feindlicher Soldaten ergattert, weshalb nicht-tödliches Vorgehen klar zu bevorzugen ist. Mit der sukzessiven Entwicklung der Basis steigen auch die spielerischen Optionen, da neue und verbesserte Gerätschaften entwickelt werden können. MGSV kreiert durch die Kombination beider Mechaniken eine Suchtspirale, die für mindestens 100 Spielstunden fesselt. Man spürt und sieht den Wachstum der eigenen Basis und bekommt so wahrlich das Gefühl, ein großer Boss, eben Big Boss zu werden.
Das klingt zwar alles nach kaltem Kaffee, denn schließlich sind sämtliche Mechanismen des Spiels bereits in zahllosen anderen erprobt und mehr oder minder erfolgreich ausgeführt worden. The Phantom Pain macht vielleicht nicht viel essentiell neu, aber es setzt all dem, was es kopiert, die Krone auf; eine Krone, die durch ihre gewaltigen Ausmaße zwar irgendwann herunterzufallen droht, bis dahin jedoch jede Menge Spielspaß mit sich bringt.

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Säule 4: Das Narrative
Aber schließlich ist es nicht die Spielmechanik, für die die Reihe bekannt ist, sondern die narrative Ebene. Fans lieben Metal Gear Solid für die durchgeknallte Geschichte und dafür, wie sie erzählt wird. Doch wo das Ludische (das Spielerische) stark ist, da muss nun mal das Narrative weichen. Diesem Grundsatz kann sich auch The Phantom Pain nicht verwehren. Nach einer grandiosen, dicht und packend erzählten ersten Stunde, die aus jeder Pore Metal Gear atmet, nimmt die erzählerische Dichte doch arg ab. Von den überlangen Cutscenes der Vorgänger fehlt in Teil 5 nahezu jede Spur, nur noch sporadisch gibt es kurze und ganz selten auch mal längere Zwischensequenzen zu sehen (die sind durch ihren kriegsreporter-ähnlichen Handkamerastil allerdings großartig inszeniert). Selbst die eigentlichen Hauptmissionen stellen nur in wenigen Fällen einen Beitrag zur Geschichte dar und die ikonischen Bosskämpfe wurden auf ein Minimum reduziert.

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Dass man sich als Fan der Reihe daran stößt, liegt auf der Hand. Schließlich sind die meistgenannten Kritikpunkte an The Phantom Pain solche, die einen Vergleich mit den Vorgängern ziehen. Doch wenn man die Intention dahinter begreift und akzeptiert, entfaltet sich die ganze Großartigkeit des Konzepts. Designer, Produzent, Autor und „Regisseur“ Hideo Kojima hat sich von seinen alten Erzählmustern, die im Wesentlichen aus endlosen Dialogen und maßlosen Cutscenes bestanden, größtenteils gelöst. Seine Erzählung liegt wie ein dünner Teppich auf dem Spiel, bleibt dabei meist flach und bietet immer wieder unerwartete Spitzen. Das Spiel hetzt nicht von einem Höhepunkt zum nächsten, sondern flechtet diese Höhepunkte vergleichsweise organisch in seinen Verlauf ein. Eine klare Trennung von Spiel- und Erzählabschnitten ist zwar immer noch vorhanden, doch diese ist nicht mehr ansatzweise so arg schematisch wie in den Vorgängern. Kojima versucht sich hier in einer fortgeschrittenen Art des Storytellings in Videospielen, die zwar aus alten Versatzstücken besteht, deren Kombination in dieser Weise jedoch etwas Eigenständiges hervorbringt.
Zu diesem Neuansatz gehört auch, dass er das uferlose Geschwafel der alten Teile zu großen Teilen aus seinen Zwischensequenzen verbannt hat. Zwar bietet das Spiel immer noch ca. sechs Stunden Gesprächsaufzeichnungen in Form von sammelbaren Kassetten mit Hintergrundinformationen (unter denen sich auch eine Handvoll großartiger Songs aus damaliger Zeit befinden, hier der Link zur Spotify-Playlist). Doch dass insbesondere der Protagonist dermaßen stumm ist, ist ein Novum für das kojimasche Erzählen und ein ambitionierter Sprung in Richtung der Leitlinie Show, don’t tell. Das sorgt im Verlauf von The Phantom Pain trotz allem für nicht wenige dieser ikonischen, poetischen Momente. Außerdem – das ist vermutlich das schwierigste für Serienveteranen – lernen wir als Spieler dadurch einmal wieder die erzählerischen Momente zu wertschätzen – zu genießen.

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Keinesfalls perfekt
Man kann nicht verschweigen, dass Metal Gear Solid V alles andere als perfekt ist. Sämtliche Zweifel an den zahlreichen „10/10“-Höchstbewertungen der Presse sind mehr als berechtigt. Neben kleineren Makulaturen sind die größten Schwachpunkte das repetitive Missionsdesign, bei dem Quantität offenkundig wichtiger als Qualität war; die Motherbase, die sich spätestens ab der Hälfte des Spiels als reichlich leere Kulisse entpuppt; die Zwischenbosse, die viel zu viel Munition schlucken; eine reichlich überflüssige Online-Komponente; ein fragwürdiges Frauenbild, das Kojima mit der Scharfschützin Quiet auftischt; eine vergleichsweise enttäuschende zweite Spielhälfte und einige Erzählstränge, deren Potenzial nur angekratzt wird. Am brutalsten ist jedoch die Tatsache, dass offenbar große Teile des Spiels und damit auch der Geschichte der marktwirtschaftlichen Schere zum Opfer gefallen sind. Wenn diese Inhalte nun wenigstens gegen zusätzliches Geld nachgereicht werden würden, wäre das zwar immer noch scheiße, aber immerhin würden wir sie (offiziell) zu sehen bekommen. Nach aktuellem Stand jedoch müssen wir wohl selbst darauf verzichten.

Fazit
Wenn Carsten Görig auf spiegel.de schreibt, „‚Metal Gear Solid V: The Phantom Pain‚ ist zweifellos eines der besten Spiele des Jahres. Am Schluss ist man dennoch froh, dass es endlich vorüber ist“, dann trifft er es damit recht gut. Für mindestens 100 Stunden bekommt man hier sehr gute Unterhaltung, sowohl spielerisch als auch erzählerisch. Aber irgendwann werden die Schwächen doch offensichtlich; das Konzept ist langsam ausgereizt. Ob sich das Spiel zu einem Klassiker entwickelt oder in einigen Jahren als überschätzter Blender gehandelt wird, steht in den Sternen. Was es allerdings zu einem solch besonderen Titel macht, ist, dass sich hier Hideo Kojima zum wohl letzten Mal an dieser großartigen Serie austoben durfte. The Phantom Pain ist im Medium Videospiel das, was man beim Film gemeinhin einen Autorenfilm nennt: ein Werk, das durch und durch von der charakteristischen Handschrift einer Person, eines Künstlers geprägt ist, und dessen Ecken und Kanten damit möglicherweise bedeutsamer sind, als die Erfolge anonymer Gamedesigner.
Dass dieser Mann es geschafft hat, solch scheinbar elementare Gegensätze – Triple-A-Produktion und künstlerisch-poetischer Anspruch; Open World und Stealth-Gameplay – miteinander zu verbinden, vollkommen den Geist der Zeit und der Reihe einzufangen und sich mit all dem quasi zugleich neu zu erfinden, macht Metal Gear Solid V nicht nur zu einem der besten Spiele des Jahres, sondern auch zu einem der einprägsamsten Exemplare dieses Mediums.
Außerdem: ist es ist nicht möglicherweise der perfekte Abschluss einer langlebigen Serie, wenn man am Ende gesättigt ist?

Bilder & Video: (c) Konami

3 Kommentare zu „„Metal Gear Solid V: The Phantom Pain“: Kritik zum Open-World-Stealth-Game Hinterlasse einen Kommentar

  1. Eine sehr gelungene, dichte Kritik zu MGS5, auf die ich leider erst jetzt gestoßen bin. Macht mir auf jeden Fall Lust auf das Spiel (welches ich in Ermangelung einer PS oder Xbox noch nicht spielen konnte). Und überhaupt: Einige der denkwürdigsten Spiele haben Ecken und Kanten und sind alles andere als perfekt. Shemue zum Beispiel. Gerade die glatt geschliffenen Spiele sind oft die, die 10 Jahre später wie charakterloser Durchschnitt wirken.

    Ebenfalls erst jetzt ist mir aufgefallen, dass wir ja in der selben Stadt wohnen. 😉

    Gefällt 1 Person

    • Danke, auch wenn ich aufgrund der Länge nicht unbedingt von „dicht“ sprechen würde ^^
      Letztlich ist MGSV zwar ein ziemlich glatt geschliffenes Spiel, dass an üblichen Open World Designfehlern krankt. Das kann ich ihm aber verzeihen, weil es ganz eindeutig die Handschrift von Kojima trägt. So etwas fehlt ja in der aktuellen Spielelandschaft. Shenmue habe ich nie gespielt, und nach den Geschichten, die ich darüber gehört habe, verspüre ich auch nicht den Drang, das jemals zu spielen ^^
      Ich kann aber verstehen, warum so viele Leute davon angetan sind.
      Und schön, einen anderen Leipziger Blogger kennenzulernen 😉

      Gefällt 1 Person

  2. In Anbetracht der Komplexität des Spiels und der Diskurse darüber, finde ich deinen Artikel schon sehr verdichtet und bei der Vielzahl an Punkten, die du ansprichst auch eher kurz. Nein wirklich, gefällt mir sehr, sehr gut und bereichert die ohnehin umfangreiche Diskussion trotzdem noch um einige interessante Gedanken.

    Zu deiner Analogie zum Autorenfilm fiel mir noch dieser (zwar nicht allzu tiefe, aber doch ganz interessante) Artikel ein: https://polyspektiv.wordpress.com/2016/07/05/politique-des-auteurs-a-la-gaming-part-1/

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