„Life is strange“ – Kritik zum Coming-of-Age-Adventure

„Videospiele können keine Geschichten erzählen.“ Die Vertreter dieser uralten These hat die Vergangenheit mehrfach Lügen gestraft. „Videospiele können keine guten Geschichten erzählen“ – dieser Vorwurf ist schon deutlich schwieriger zu widerlegen. Life is strange ist eines der Beispiel dafür, dass das aber doch möglich ist.
Leider erlauben es mir meine Zeit und mein Budget nicht mehr, im Bereich Videospiele permanent auf dem Laufenden zu bleiben. Umso überlegter will jeder Kauf eines halbwegs aktuellen Spiels sein. Wenn dann allerdings das Komplettpaket zu Life is strange für einen spottbilligen Preis angeboten wird, muss ich einfach zuschlagen. Dass ich zudem Fan der modernen Story-Adventures nach Telltale-Muster bin, machte diese Entscheidung umso leichter. Das abschließende Fazit: Das Geld war nicht verschwendet.
Kleines Spiel mit Indie-Charme
Life is strange ist ein episodisches Story-Adventure, das ausnahmsweise mal nicht aus der Feder der Telltale-Autoren sondern vom französischen Studio Dontnod Entertainment stammt. Die konnten sich zuvor nur mit dem durchschnittlichen Remember me einen kleinen Namen machen. Auch Life is strange ist kein großes Spiel. Insbesondere das technische Gerüst deutet auf einen eher kleinen Produktionswert hin. Das ganze Projekt strahlt einen gewissen Indie-Charme aus (und das trotz des riesigen Publishers Square Enix im Rücken). Anstatt sich auf eine zeitgemäße Optik zu konzentrieren, wurden die Schwerpunkt hier an ganz anderer Stelle gesetzt.
Das Hauptaugenmerk von Life is strange ist seine Geschichte. Die führt nicht in unerschlossenes, narratives Territorium, sondern bedient sich einer äußerst vertrauten Thematik: Coming-of-Age mit Mystery-Elementen. Die Hauptfigur Max Caulfield ist eine neue Studentin an einer elitären Kunst-Akademie in Arcadia Bay, einer Kleinstadt an der Westküste der USA. Als Nerd verschrien fristet das gewöhnliche und fotografiebegeisterte Mädchen ein Schattendasein mit einem vergleichsweise kleinen Freundeskreis. Eines Tages erwacht auf einmal eine übernatürliche Kraft in Max: sie kann die Zeit zurückdrehen. Mit dieser äußerst praktischen Fähigkeit bewaffnet stolpert Max in ein Abenteuer, das sich rund um ein verschwundenes Mädchen, Probleme mit Eltern und Mitschülern, Mobbing, Drogen, Selbstfindung und eine drohende Naturkatastrophe dreht.
In einem Film wäre diese Handlung beileibe nichts Neues – im Bereich Videospiele hingegen fristen Coming-of-Age-Stories ein absolutes Nischendasein. Die populärsten Vertreter dieses Genres waren bisher noch die Japano-RPGs der Persona–Reihe. Gut, Bully von Rockstar Games gab es da auch noch. War ja aber vielmehr eine Parodie. Zumindest scheint sich die westliche Spieleindustrie bisher herzlich wenig für diese Thematik zu interessieren. Umso wichtiger und richtiger, dass endlich jemand diesen Schritt gemacht hat, und umso besser, dass dabei etwas so gutes herausgekommen ist.
Tolle Figuren und atmosphärisches Setting
Zum ersten und am meisten liegt das an den Figuren, also ausgerechnet dem Aspekt, an dem die meisten Videospielstories scheitern. Life is strange kommt nicht nur mit zahlreichen greifbaren und schön ausgearbeiteten Charakteren daher, sondern nimmt diese auch sehr ernst. Die Protagonistin gehört dabei noch eher zum Mittelfeld, deutlich besser gelungen sind hingegen die meisten der relevanten Nebenfiguren, allen voran Max‘ Freundin Chloe. Auch wenn viele davon auf Stereotypen basieren mögen – man merkt den Entwicklern alle Mühe, authentische und individuelle Figuren erschaffen zu wollen, an. Und das gelingt ihnen letztlich: Teenager-Zimmer sehen nach tatsächlichen Teenager-Zimmern aus, Chloes Haus wirkt in seiner Architektur und Innengestaltung wie eines, in dem man wirklich leben könnte.
Womit wir auch schon bei der zweiten großen, erzählerischen Stärke von Life is strange wärem: seinem Setting und der damit einhergehenden Atmosphäre. Das verschlafene Küstenstädtchen Arcadia Bay bietet zwar nur eine Handvoll Schauplätze, umso schöner sind diese jedoch gestaltet und umso größer ist ihr Wiedererkennungswert. Man fühlt sich in diesem virtuellen Ort einfach wohl, schließt ihn und seine Bewohner (zumindest die netten) direkt ins Herz. Spätestens in den Momenten, in denen Max mit melancholischem Indie-Rock auf den Ohren eine Busfahrt im Sonnenuntergang unternimmt, ist man komplett gefangen. Eine atmosphärische Wucht. Selbst Filme schaffen es nur selten, ein solches Gefühl zu erzeugen.
Schwere Entscheidungen ohne Konsequenzen
Die umfassende Geschichte von Life is strange ist eine vergleichsweise konventionelle, dafür aber sehr wendungsreiche, die mit vielen emotionalen Schlüsselmomenten gespickt ist. Auch wenn die Entscheidungen des Spielers (wie so oft in diesem Genre) nur minimalen Einfluss auf den grundlegenden Handlungsverlauf haben, so sind es dennoch jene schwerwiegenden Entscheidungssituationen, die den Spieler immer wieder an eine moralischen Weggabelung führen und ihn an die Grenzen seiner Überzeugungen treiben. Dabei hat man sich dazu entschlossen, ihn die Wahl aller Ausführlichkeit überdenken zu lassen. Es gibt keinen zeitlichen Druck, die gefällte Entscheidung kann dank Max‘ Zeitreisefähigkeit sogar unmittelbar danach rückgängig gemacht werden. Wären da nur nicht immer diese verfluchten Langzeitfolgen….
Am Ende sind all diese Entscheidungen allerdings nicht mehr relevant. Das Finale ist unabwendbar. Dann bleibt nur noch eine letzte Wahl, die zu einem von zwei Enden führt, von denen eines zudem ziemlich unausgegoren ist. Das ist natürlich ärgerlich, andererseits, wenn man ehrlich ist, aber auch notwendig, um das Ganze zu einem kohärenten Abschluss zu führen.
Viel Story, wenig Spiel
Das Hauptanliegen von Life is strange ist es, seine Geschichte zu erzählen. Der Fokus auf die Narrativität geht einher mit einem unvermeidlichem Verlust des Spielerischen. Zwar verzichtet Life is strange glücklicherweise auf Quick Time Events, jedoch auch auf einen Großteil der spielerischen Freiheiten. Die Areale, in denen man sich bewegen darf, sind mehr als überschaubar, ebenso wie die Ineraktionsmöglichkeiten, die darin zu finden sind. Zwar motiviert das Spiel dazu, bei dem bisschen, was es zu sehen gibt, genauer hinzuschauen und baut dadurch seine Welt und Figuren schön aus. Doch gerade in den ersten beiden Episoden wirken viele Spielpassagen überflüssig und stellenweise wie Fremdkörper. Die Rätsel bleiben durchweg simpel.
Überhaupt nimmt Life is strange erst ab dem Ende der zweiten der insgesamt fünf Episoden, die allesamt nach zwei bis drei Stunden zu Ende sind, Fahrt auf. Das Episodenformat hat sich jedoch ausgezahlt. Die Entwickler haben aus ihren Fehlern sukzessive gelernt, nehmen sich in der dritten Episode gar selbst auf die Schippe, wenn eines der vielen überflüssigen „Rätsel“ mit einen kecken Spruch übersprungen wird. Insgesamt macht Life is strange als Erzählung eine deutlich bessere Figur als als Spiel. Dabei wäre gerade durch die Zeitreisemechanik so viel mehr drin gewesen.
Der letzte Funken Mut fehlt
Ein weiteres Problem, das Life is strange als Videospiel hat: es traut sich nicht, Sex explizit zu thematisieren. Viele Storyelemente deuten das zwar an, stellenweise geht es sogar um sexualisierte Gewalt – es bleiben jedoch zu jeder Zeit reine Andeutungen. Nicht, dass es pornöser Szenen bedurft hätte. Aber gerade in einem solchen Setting wirkt es doch recht unglaubwürdig, wenn es bei ein, zwei zögerlichen Küsschen und der ungewollten Schwangerschaft einer Nebenfigur bleibt. Da hat das Medium noch einen langen Weg vor sich.
Fazit
Life is strange ist vielleicht kein gutes Spiel – aber eine sehr gute Erzählung. Die lebt in erster Linie von seinen authentischen, ambivalenten Figuren, dem großartigen Setting und seinen zahlreichen, schockierenden Wendungen und Momenten. Die moralischen Kopfnüsse sind bereits da – wenn die geplante zweite Staffel noch ein paar spielerische zu bieten hätte, könnten die Pariser von Dontnod die neue Blaupause für Story-Adventures liefern. Aber auch ohne all diese Superlative ist Life is strange sympathisch und liebenswert genug, um einfach eine tolle Erfahrung im Bereich des interaktiven Storytellings zu sein. Auch für Nicht-Videospieler definitiv einen Blick wert.
Bilder & Trailer: (c) Dontnod Entertainment
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