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Kritik: „Son of Saul“ – Im Herzen der Hölle

Son of Saul (Saul fia, László Nemes, HUN 2015)

Son of Saul trägt den Zuschauer mitten ins Herz des Vernichtungslagers Auschwitz. Der ungarische Oscargewinner in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“ kreiert durch seine Machart eine äußerst intime und beklemmende Atmosphäre. Ein persönliches Drama inmitten der Hölle.

Die Kamera ist auf den Kopf eines Mannes gerichtet. Sein Gesicht wirkt erschöpft, niedergeschlagen und dennoch konzentriert, die Baskenmütze verdeckt die ungepflegten, graustichigen Haare. Ein Geschwür verunstaltet seine Lippe. Der Zug fährt ein, spuckt dutzende jüdische Gefangene aus, die in einen Raum geführt werden, wo sie sich entkleiden sollen. Die Kamera folgt dem Mann unablässig. In einer minutenlangen, schnittfreien Einstellung entfernt sie sich nie mehr als einen Meter von ihm, das Geschehen im Hintergrund ist unscharf. Dann werden die Entblößten in einen weiteren Raum geschickt – die Wärter verkünden, dass nun Duschen anstehe. Mit einem Krachen fällt die schwere Metalltür ins Schloss. Der Mann legt sein Ohr an die Tür, die Panik auf der anderen Seite wird größer, die Schreie lauter. Dann: harter Schnitt, Titel. „Son of Saul“.sos poster 2

Die ersten Minuten von Son of Saul sind brillant. Ohne ein einziges Wort der Hauptfigur werden er und das Szenario eingeführt, der Stil ändert sich im Rest des Films kaum. Der Mann, der hier wortwörtlich im Fokus steht, ist Saul, Gefangener im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Saul ist Teil eines so genannten „Sonderkommandos“ – Inhaf-tierte, die die Drecksarbeit erledigen: Kleidung durchsuchen, Wertsachen sammeln, Leichen-transporte. Damit ist Saul zwar so etwas wie privilegiert, aber was ist das in der Hölle von Auschwitz schon wert?
Sein titelgebender Sohn ist bereits tot, als wir ihn das erste Mal sehen. Saul will ihm halbwegs würdiges Begräbnis verschaffen, also muss ein Rabbi her.

Kein Statement, aber ein Mahnmal
Dieser Storykniff ist ebenfalls brillant, gibt er doch den Anstoß dafür, dass Saul im Laufe des Films das gesamte Lager auf der Suche nach einem Geistlichen durchstreift – stets mit dem Zuschauer auf den Versen. Denn die anfängliche Perspektive – Fokus auf Sauls Kopf, immer nah dran – wechselt nur in ganz seltenen Momenten in einen PoV-Shot, ab und an schwenkt sie kurz auf das, was sich der Protagonist gerade ansieht.
Son of Saul nimmt das Prinzip der Unmittelbarkeit und der distanzarmen Erzählung absolut ernst und wörtlich. Und ebenso das Prinzip Show, don’t tell, denn viel gesprochen wird in diesem Film nicht. Stattdessen werden dem Zuschauer die Gräuel des Holocaust unkommentiert vor Augen geführt, welche zugleich Sauls Augen sind, der uns von einer schrecklich Situation zur nächsten führt. Trotz dieser Nähe fällt die Identifikation mit der Hauptfigur schwer, Sauls Motive und Handlungen sind entweder unklar oder nicht nachvollziehbar. Das sollen sie aber auch gar nicht sein: Wer könnte sich schon in die Situation eines Holocaust-Opfers hineinversetzen?

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Und dennoch sorgt diese geringe Distanz – sowohl die räumliche als auch erzählerische – dafür, dass Son of Saul einer der intensivsten Filme mit dieser Thematik ist. Durch die Wahl der Perspektive (plus der Entscheidung für ein 4:3-Bildformat) wirkt der Bildraum stets beengt, man möchte sagen: klaustrophobisch. Son of Saul fühlt sich an wie eine Reportage, wie ein historisches Dokument ohne affektive Musik und simple, dramaturgische Taschenspielertricks. Stattdessen erzählt er das persönliche Drama eines Mannes, der bereits in der schlimmst-möglichen Situation steckt – und trotz vermeintlicher Rationalität allmählich der Verzweiflung und dem Wahnsinn anheimfällt. Das hier ist kein positiver, sondern bis zur letzten Minute ein beklemmender und bedrückender, fast schon erdrückender Film, ohne erlösenden, karthatischen Moment. Kein Statement, aber ein Mahnmal.

Deutsche Versäumnisse
Umso schändlicher, dass Son of Saul eine solch undankbare Resonanz in der deutschen Kinolandschaft erfahren hat. Dabei versorgt uns die hiesige Filmindustrie mehrmals jährlich mit (oft repetitiven) Werken über die Gräueltaten des NS-Regimes, bevorzugt aus Sicht des Widerstandes oder der nachträglichen Aufarbeitung – Stichwort: Entnazifizierung. Immer schön Distanz wahren. Wenn dann aber einmal so in den Kern des Ganzen vorgedrungen wird wie in Son of Saul, dann erblickt das erst ein dreiviertel Jahr nach dem ungarischen Start das Licht der deutschen Kinosäle – und drei Monate nach US-Release. Und dann auch nur in einer Handvoll kleiner Arthouse-Kinos. Dank an Sony dafür, dass es doch noch geklappt hat.

Fazit
Son of Saul ist ein Film, der auf’s Gemüt schlägt. Gerade das sowie seine ungewöhnliche Machart und Erzählweise machen ihn aber so sehenswert. Der ungarische Oscarpreisträger ist weder Betroffenheitsparade noch Anklageschrift und funktioniert deshalb umso besser als historisches Mahnmal.

5,0

Bilder & Trailer: (c) Sony Pictures

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