„Vorsicht: Spoiler!“ – #1: Ein digitales Phänomen

Immer mal was Neues: In dieser Artikelreihe möchte ich versuchen, mich dem Phänomen des Spoilerns zu nähern. Alles höchst unwissenschaftlich.
Seit am vorletzten Sonntag die sechste Staffel von Game of Thrones gestartet ist, ist sie wieder omnipräsent: die große, nein, eigentlich gewaltige Paranoia vor Spoilern. Ob die berechtigt ist, ist eine Frage, die in regelmäßigen Abständen in den Raum geworfen wird. Von einigen verneint, von den meisten bejaht.
[Disclaimer: Diese Artikelreihe ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung bzw. Verschriftlichung meines kleinen Gastauftritts beim höchst empfehlenswerten Videospielpodcast „Auf ein Bier“ sowie der anschließenden Diskussion in deren Forum.]
Wer spoilert, der ist nach wörtlicher Übersetzung ein „Verderber“ – jemand, der das Ende, den Twist oder schlichtweg wichtige Handlungselemente einer (fiktiven) Geschichte im Voraus verrät. Ob das absichtlich oder unabsichtlich geschieht, ist irrelevant – den Spoilerer erwartet in jedem Falle ein ordentlicher Shitstorm seitens seiner Opfer.
Wer gespoilert wird, der ist sauer, wird ihm doch das jungfräuliche Erlebnis eines Buches, einer Serie, eines Filmes oder eines Videospiels genommen. Und doch muss mehr dahinter stecken. Ein Blick zurück hilft.
Erinnert sich jemand daran, wie man noch zu Schulzeiten damit umgegangen ist? Mein Gedächtnis ist nicht mehr ganz frisch, doch soweit ich mich entsinnen kann, war das Konzept „Spoiler“ damals etwas völlig unbekanntes. Im Gegenteil: wer einen neuen Film gesehen hatte, der erzählte gerne mal voller Enthusiasmus die gesamte Handlung nach, inklusive (oder insbesondere) Wendepunkte, Überraschungen und Auflösung. Damals weckte man so die Neugier und das Interesse seiner Zuhörer, wollte seine besser informierte Position nutzen, um sich beliebt zu machen. Heute läuft man ganz im Gegenteil dazu Gefahr, physisch oder wenigstens verbal niedergeknüppelt zu werden.
Eine der offensichtlichsten Antworten auf die Frage, was sich denn verändert habe, scheint zu sein, dass wir alle älter geworden sind. Die mediale Sozialisation, die wir im Laufe dieser Jahre durchlebt haben, hat uns so stark geprägt, dass wir die Regeln der Dramaturgie und einzelner Genres mittlerweile (wenn auch nur unbewusst) verinnerlicht haben. Wir wissen geau, dass es in der Mitte des Films einen Höhe- und gleichzeitigen Wendepunkt gibt, dass ein Western mit einem Shootout, eine Romanze mit einem glücklichen Kuss, ein Drama zumeist mit einem Happy End abschließt. Und wir kennen die dramaturgischen Mittel und Kniffe von Hollywoods Drehbuchautoren. Mit anderen Worten: uns zu überraschen, ist inzwischen schwierig, selten und kostbar. Umso wichtiger scheint es, jene Überraschungen zu bewahren, damit sie während des ersten Schauens, Lesens oder Spielens noch wirken können. Wir wollen überrascht werden – und reagieren deshalb so empfindlich, wenn Gefahr droht, uns dieses Erlebnis zu nehmen.
Diese Argumentation erweist sich allerdings als falsch oder zumindest unbefriedigend, wenn ich mich in meinem persönlichen Umfeld umschaue. Diese empirische Basis mag nicht repräsentativ sein, doch vor allem ältere Familienmitglieder und Bekannte wissen zum einen überhaupt nicht, was dieses „Spoilern“ sein soll – zum anderen ist noch nicht mal ein Hauch von Verärgerung zu erkennen, wenn man ihnen das Filmende oder eine Wendung im Voraus verrät.
Eine Generationenfrage also? Auch das wäre zu pauschal, schließlich gibt es nicht wenige Altersgenossen, die kein großes Problem mit Spoilern haben – und das nicht, weil sie die vermeintliche Lächerlichkeit dieser Paranoia erkannt haben, sondern weil es sie schlichtweg nicht kümmert. Es ergeben sich deshalb zwei Erklärungen, die mir als schlüssige Antworten auf die obige Frage erscheinen:
1. Ich und viele andere, die ein Problem mit Spoilern haben, gehören zu einer Gruppe von Menschen (die ich liebevoll als Nerds bezeichnen möchte), die Bücher, Filme und/oder Spiele passionierter rezipieren, als andere. Ich sage das ohne Wertung, denn was die einen als Hobby oder gar Leidenschaft ansehen, ist für andere nur ein gelegentlicher Zeitvertreib, weil sie sich stattdessen für andere Dinge begeistern (können). Doch wer nur zwei Mal im Jahr ins Kino geht – und für den dabei der soziale Faktor im Vordergrund steht – hat nun mal eine andere Beziehung zum Medium Film als jemand, der es zwei Mal monatlich oder öfter besucht.
2. Die „Spoiler-Paranoia“ ist nur eines von vielen Phänomenen, das aus der Digitalisierung und Social-Mediatisierung entstanden ist. Denn immer, wenn wir durch unsere Twitter- oder Facebook-Timeline scrollen oder einfach nur die Startseite von Spiegel Online aufrufen, laufen wir Gefahr, gespoilert zu werden – ob durch Bilder, Überschriften oder Hashtags. Dass uns die Informationsflut der digitalen Gesellschaft auch immer mit solchen überschwemmt, die uns nicht interessieren (ja, ich meine euch, Vice) oder die wir vermeiden wollen (Pegida-Videos und PI-News, ohne diesen Mist mit so etwas harmlosen wie Spoilern gleichsetzen zu wollen), ist keine neue Erkenntnis.
Doch um hier den Bogen zur anfänglichen Aussage über Game of Thrones zu schlagen: Wer ein halbwegs aktiver Social Media-Nutzer und zugleich Fan der HBO-Serie ist, den zwingt die Gefahr von Spoilern dazu, sich die aktuellste Folge möglichst noch am Tag des Erscheinens anzuschauen – egal über welchen Kanal. Man erinnere sich, als man im letzten Jahr auf Spiegel Online bereits in der Überschrift zur Kritik der achten Folge knallhart gespoilert wurde. Diese Angst hat damit auch unser Sehverhalten beeinflusst.
Es lässt sich also sagen, dass die Digitalisierung die Spoiler-Paranoia in jedem Falle angefacht hat. Es scheint allerdings ebenso plausibel, dass sie sie überhaupt erst entzündet hat. Das könnte zumindest erklären, warum es kein deutsches Wort für dieses Phänomen gibt.
Mit diesen beiden Thesen möchte ich den ersten Teil dieser Artikelserie abschließen. Im zweiten werde ich mich mit jenen Argumenten auseinandersetzen, die der Spoiler-Paranoia kritisch gegenüberstehen.
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