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Der Herr der Rollen

Seit der Digitalisierung des Kinos ist der Beruf des Filmvorführers dem Untergang geweiht. Nur einige wenige halten die Fahne für den „echten“ Film noch aufrecht. Einer davon: Achim Orlia.

Der folgende Text entstand vor einigen Wochen im Rahmen eines journalistischen Weiterbildungskurses an der Akademie für Publizistik in Hamburg. Ich danke an der Stelle allen Dozenten, allen weiteren Teilnehmern sowie den Mitarbeitern des Savoy Kinos, vornehmlich Theaterleiter Gary Rohweder und natürlich dem Star dieses Text: Achim Orlia.

Es wuselt im Foyer des Savoy. Tickets werden gedruckt, Popcorn und Softdrinks über die Theke gereicht. Ein zierlicher älterer Herr, passend zum Teppich in ein weinrotes Hemd gekleidet, verlässt seinen Posten hinter der Kasse und zwängt sich durch die Menge. Es wird Zeit, die Vorstellung vorzubereiten. Sein Weg führt ihn durch zwei Türen in den Hinterhof des Kinos, eine enge Wendeltreppe hinauf zu einer weiteren Tür, die mit einem Zahlencode gesichert ist. Im Inneren ist es düster, nur das kalte Licht der Monitore und des Fluchtwegschilds schaffen Orientierung. Der Name des Mannes: Achim Orlia. Sein Beruf: Filmvorführer. Das hier ist sein Reich.

Angefangen hat alles 1973. Da jobbte der gebürtige Göttinger und leidenschaftliche Kinogänger nach der Schule im örtlichen Lichtspielhaus als Platzanweiser. Sein wahres Interesse aber galt der Technik. „Ich habe jede freie Minute im Vorführraum gehockt“, erinnert sich der 60-Jährige. Er sah zu und lernte – und als der Filmvorführer einmal ausfiel, sprang Orlia kurzerhand ein. Welcher Film das damals war, da ist er sich unsicher. Entweder François Truffauts „Amerikanische Nacht“ oder ein asiatischer B-Movie namens „Das Schwert des gelben Tigers“. Auch bei der Frage, wie viele Filme er seitdem auf Leinwand gebracht hat, kann er nur schätzen: Hunderte, wenn nicht Tausende.

Auf den ersten Blick wirkt sein Arbeitsplatz wie eine Mischung aus Server-, Überwachungs- und Lagerraum. In gewisser Weise ist er das auch. Zwei Projektoren und eine moderne Tonanlage stehen neben massiven Regalen voller Werkzeuge und Kartons. In den Ecken stapeln sich zahllose Papprollen und Metallkisten. Ein altes Waschbecken ragt aus der Wand, ab und an löst sich ein Tropfen vom Wasserhahn. Das dumpfe Klirren des Aufschlags durchbricht das harmonische Surren der Maschinen. Ein Relikt aus der Zeit der Erbauung des Kinos, berichtet Orlia nostalgisch. Das war 1959.

Schon in Göttingen war er in Kontakt mit dem Savoy gekommen. In einem Magazin las er einen Artikel über dessen Eröffnung und war sofort fasziniert vom Kino im fernen Hamburg. Einige Jahre später zog er in die Hansestadt, absolvierte eine Ausbildung zum Maskenbildner, fand aber keine Anstellung. Also heuerte er abermals in einem Kino an. Eigentlich nur  übergangsweise. Daraus wurden 14 Jahre. Es folgten 16 weitere als Projektionsleiter in einem Multiplex, bis er – wie so viele in seiner Branche – „wegdigitalisiert“ wurde. 2013 nahm ihn
schließlich das Savoy auf. Der Jugendtraum war wahr geworden. Orlias Liebe zum Film und zum Kino ist nach all dieser Zeit ungebrochen. Melodramen und Musicals sind seine Passion, Action weniger.

Heute aber steht genau das auf dem Plan. „Dunkirk“ heißt die Hauptattraktion des Abends. Regie: Christopher Nolan. Genre: Kriegsfilm. Format: 70 Millimeter. Die Königsklasse des analogen, des „echten“ Films. Einen halben Meter misst der aufgewickelte Streifen im Durchmesser. Drei schmale, gelbe Markierungen sind darauf zu erkennen: Klebestellen. Vier Filmrollen waren vor einigen Wochen angeliefert worden, jede mit 25 Minuten Laufzeit. Orlia musste sie mittels Spezial-Klebeband zu einer einzigen zusammenfügen. Routine für ihn. Jetzt thront das Zelluloid auf einer runden Metallplatte, dem Filmteller. Orlia berichtigt sogleich: „Zelluloid gibt es nicht mehr. Seit den 90ern besteht das Filmmaterial aus Polyester. Das ist reißfest und schwer entflammbar.“

Bis in die 60er war sein Job wegen jener Brandgefahr noch ein Ausbildungsberuf. Die Gefahr von Verletzungen – Quetschungen, Schnittwunden – bestehe aber immer noch. Und bis zur Erfindung des Filmtellers in den 80ern war er auch mental belastend. Heute läuft der Film am Stück durch, doch damals musste der Vorführer stets anwesend sein, um nach jeder Rolle auf die nächste umzuschalten. Der Monumentalfilm „Lawrence von Arabien“ lief drei Jahre im Savoy. Vier Stunden, 14 Rollen. „Jeden Abend dieselben Dialoge und dieselbe Musik – wahrscheinlich mussten die Kollegen irgendwann zum Psychiater.“

Mit der Digitalisierung der Kinos Ende der 2000er waren diese Probleme passé – und der Beruf des Filmvorführers dem Ende geweiht. Heutzutage sind analoge Projektoren Raritäten, jährlich erscheinen nur noch zwei, drei Filme auf 70 Millimeter. Die meisten werden stattdessen auf massiven Festplatten angeliefert und ins System geladen. Dafür ist der andere Projektor im Savoy vorgesehen. Am Computer bastelt Orlia einmal wöchentlich das Programm für die kommenden sieben Tage zusammen, inklusive Werbespots und Trailern. Das dauert zwei bis drei Stunden. „Ziemlich unromantisch“, wie er meint. Aber eben auch sehr komfortabel. Das gelegentliche Hantieren mit echtem Film bereite ihm noch immer einen Heidenspaß – aber bitte nicht mehr in der Alltagspraxis. Zu viel Aufwand, zu wenig Mehrwert. Bei Farbbrillanz und Kontrast sei der analoge Film ungeschlagen, doch nur die Wenigsten erkennen den Unterschied. Orlia gibt zu, dass er selbst nicht dazugehöre. Ob dem analogen Film irgendwann ein Comeback ähnlich der Schallplatte beschert sein könnte? „Eher fresse ich einen Besen“, platzt es mit einem Grinsen aus ihm heraus.

Der Filmvorführer blickt durch die Scheibe hinter den Projektoren hinab in den Kinosaal. Die Türen öffnen sich, das Publikum strömt herein. Er rückt kurz seine Brille zurecht: Jetzt ist Eile geboten. Orlia greift in die Mitte der Filmrolle, führt den Streifen über ein Dutzend Rollen und Winden hinweg zum Projektor und auf einen zweiten Filmteller, auf den der Streifen wieder aufgespult wird. Souveräne und präzise Handgriffe zeugen von 40 Jahren Berufserfahrung. Er werde diesen Job mit aller Leidenschaft bis zur Rente fortführen, sagt er. Vielleicht sogar darüber hinaus. Dann wirft er den Projektor an. Die Lautstärke steigt sprunghaft an, es dröhnt und surrt, als die alte Maschine beginnt, ihr Werk zu verrichten. Noch ein letzter Check, dann geht es los. Die Gäste haben Platz genommen, das Licht wird gedimmt, der Vorhang lichtet sich. Die Vorstellung kann beginnen.

Bilder: (c) Savoy

3 Kommentare zu „Der Herr der Rollen Hinterlasse einen Kommentar

  1. Wenn Rüdiger Vogler als Filmvorführer in „Im Lauf der Zeit“ erklärt, dass das Malteserkreuz eben doch kein Schnaps ist, sondern zentraler Bestandteil jeden Filmprojektors, aber aus der Vorführkabine kein Rattern mehr zu hören ist – dann hat sich das Kino für immer von seinen Wurzeln gelöst. Es hat sein Nest verlassen, es ist, um mit dem frühem Wim Wenders zu sagen, „zwanzigtausend Lichtjahre“ weg von zu Hause.

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    • Das kann man nun gut oder schlecht finden – und ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, wo ich mich verorten soll. Ich hatte vor meinem Gespräch mit Orlia auf ganz viel Nostalgie und Romantik gehofft. Stattdessen kam ein klares und nachvollziehbares Bekenntnis zum Digitalen.
      So wichtig es auch ist, die Wurzeln des Mediums im kollektiven Bewusstsein und zu halten, so sehr müssen wir, glaube ich, darauf achten, uns nicht in nostalgischer Verklärung zu verlieren…

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      • Wenders Aussage zeigt halt sehr viel Sentimentalität. Aber sein Film von 1975 über Bruno alias „King of the Road“, der mit seinem LKW entlang der deutsch-deutschen Grenze reist und Filmprojektore repariert, bleibt für mich ein überragendes Zeitdokument.

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