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Kritik: „Mord im Orient-Express“

Mord im Orient-Express (Murder on the Orient Express, Kenneth Branagh, USA/UK 2017)

Ein Zug, ein Mord, zwölf Verdächtige – das ist die Ausgangslage von Agatha Christies Roman Mord im Orient-Express. Und der bekommt nun seine mittlerweile fünfte Verfilmung.

Auch wenn es Zeugnis der in Hollywood vermeintlich grassierenden Ideen-Armut ist, so kann ich der Idee von Remakes ja prinzipiell etwas abgewinnen. Vor allem, wenn ich die Vorlage oder das Original nicht kenne und deshalb eine moderne Re-Interpretation einer Geschichte serviert bekomme. Und wenn ich ehrlich sein soll, hat mich Kenneth Branaghs Version des Kammerspiel-Krimis mit seiner imposanten Darstellerriege im Vorhinein auch ziemlich angefixt. Doch Mord im Orient-Express will sowohl die Jungen als auch die Alten abholen – und kann deshalb keine dieser beiden Zielgruppen befriedigen.

Die 2017er-Version von Mord im Orient-Express lässt einen zwiegespalten zurück. Das wird bereits im Prolog deutlich, der sich einzig dem großem Star des Films widmet: Hercule Poirot, für den Regisseur Kenneth Branagh – ganz selbstlos – Kenneth Branagh als Darsteller ins Rennen schickt. Der verkörpert hier den besten Detektiv der Welt, wie der Film nicht müde zu betonen wird, ist zudem ein Pedant und Träger eines riesigen, sichtbar unechten Schnurrbartes. Im Jerusalem des Jahres 1934 soll er den Diebstahl einer Reliquie aufklären und identifiziert schließlich seinen Auftraggeber als Täter. Und das macht – bei aller Bereitschaft, logische Stolpersteine zu überspringen – leider sehr wenig bis keinen Sinn. Oder würdet ihr, wenn ihr euer Verbrechen jemand anderem zuschieben wollt, ausgerechnet den weltweit besten Schnüffler engagieren?

Diese Eingangs-Szene ist zunächst aber einmal symptomatisch für ein anderes Problem: Mord im Orient-Express ist über seine Laufzeit von knapp zwei Stunden viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Protagonisten möglichst smart, cool und intellektuell zu inszenieren, statt eine in sich logische und nachvollziehbare Geschichte zu erzählen. Branagh verliert sich derart tief darin, seinen Charakter zu einem Übermenschen zu stilisieren, dass der eigentliche Handlungskern – die Aufklärung eines Mordes auf engstem Raum – zurückstecken muss.

Das führt direkt zum nächsten Problem. Statt einer fein säuberlichen Induktion setzt Poirot bei seiner Arbeit regelmäßig auf folgende Methode: Er konfrontiert seinen Gesprächspartner respektive Verdächtigen mit einer himmelweit daher geholten These, woraufhin diese vom überrumpelten Gegenüber bestätigt wird. Ebenso überrumpelt ist dann auch der Zuschauer. Man kann darüber hinweg sehen – oder sich immer wieder die berechtigte Frage stellen: Wie kommt der Mann eigentlich darauf? „Intuition“ ist da jedenfalls keine zufriedenstellende Antwort.

Erzählen ist eine Kunst, die es verlangt, Information auf ansprechende Weise zu vermitteln: Wem wird was zu welchem Zeitpunkt (und vor allem:) wie mitgeteilt? Branagh geht in diesem Falle aber über weite Strecken so Holzhammer-artig, so ungelenk und -elegant vor, dass man sich als Zuschauer im Stich gelassen fühlt. Die diversen Rückblenden stiften sogar noch mehr Verwirrung. Kurzum: Der Film kann sich nicht entscheiden, welches Publikum er ansprechen will. Wirklichen Durchblick in diesem Indiz- und Motiv-Wirrwarr hat man nur, wenn man die Auflösung bereits kennt. Dann aber fehlt jegliche Überraschung. Eine Lose-Lose-Situation für beide Zielgruppen, denn der Spannungsaufbau wird dadurch erheblich gedrückt.

In dieser Hinsicht erinnert Mord im Orient-Express also an die Verfehlungen der letzten zwei Sherlock-Staffeln: Er bombardiert den Zuschauer mit Informationen und setzt zu sehr auf Style statt auf Substanz. Immerhin aber hat er Style. Man muss Branagh tatsächlich dafür loben, wie kreativ er mit dem eingeengten Schauplatz umgeht, welche unkonventionellen Perspektiven er aufgreift (Stichwort: senkrechte Kamerawinkel), wie schön er das Innere (und Äußere) des Zuges in Szene setzt.

Die Darstellerriege kann sich ebenfalls sehen lassen: Judi Dench, Johnny Depp, Willem Dafoe, Michelle Pfeiffer und Josh Gad sind nur einige Namen, die beeindrucken und deutlich differenzierbare, memorable Individuen verkörpern – auch wenn nicht alle Leistungen stimmen. Besonders Daisy Ridley lässt jenen Charme, den sie in Star Wars als Rey zeigte, vermissen, kommt stattdessen überraschend steif daher. Branagh hingegen hat sein großes Ziel erreicht: Seine Darstellung des Hercule Poirot verleiht dem Detektiv gleichermaßen Charme und Esprit. Und dass er sich derart über Romane von Charles Dickens beeiern kann, sorgt für eine sympathisch menschliche Note.

Fazit
Am Ende scheitert Mord im Orient-Express daran, dass er sich für keine Zielgruppe entscheiden kann. Nicht-Kenner des Stoffs müssen ob der wirren Erzählweise viel Toleranz für Logiklücken mitbringen (oder diese selber füllen – aber das ist ja schließlich nicht die Rolle des Publikums). Kennern hingegen wird kaum Neues geboten. Einzig die dezenten inhaltlichen Änderungen, die zugunsten leiser politischen Untertöne zum Thema Rassismus gemacht wurden, sowie das interessante Dilemma, das am Ende aufgemacht wird, bieten einen Anlass, sich diese Neuinterpretation von Agatha Christies Werk anzusehen.

Bilder und Trailer: (c) 20th Century Fox

6 Kommentare zu „Kritik: „Mord im Orient-Express“ Hinterlasse einen Kommentar

  1. Treffende Kritik. Die erste halbe der knapp zwei Stunden schleppt sich recht zäh dahin. Erst als die Ermittlungen beginnen, kommt der raffinierte Plot in Gang, der bereits zum vierten Mal als Filmvorlage dient. Leider ist diese neue Verfilmung ähnlich altbacken wie die bekannteste Kino-Adaption aus dem Jahr 1974 mit Sir Peter Ustinov, die regelmäßig, vor allem im Feiertagsprogramm, im TV wiederholt wird. Negativ fällt vor allem der süßliche Klangteppich auf, der fast den gesamten Film unterlegt.
    https://daskulturblog.com/2017/11/25/mord-im-orient-express-hollywood-remake-mit-viel-patina/

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