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Gespielt: Red Dead Redemption 2

Rockstar Games, 2018

Sechs Wochen und gut 100 Spielstunden hat es gedauert, bis ich den Abspann von Red Dead Redemption 2 sah. Als die Credits des monumentalen Western-Epos von Rockstar Games anliefen, dominierte in meinem Kopf ein Gefühl: Bedauern. Einerseits Bedauern darüber, dass das Spiel zu Ende ist. Andererseits ein Bedauern all jener, die es innerhalb von ein, zwei Wochen durchgeprügelt haben. Egal ob sie es wollten oder mussten. Denn Eile ist die größte Sünde, die man beim Spielen von RDR2 begehen kann.

Gleichzeitig ist dies wohl der Grund für die überragenden Presse-Wertungen. Denn: RDR2 ist ein Blender, dessen Fassade erst nach ein bis zwei Wochen zu bröckeln beginnt. Auch ich war während dieses Zeitraums restlos begeistert. War fasziniert vom Detailgrad, von der technischen Brillanz, von der Gestaltung und Inszenierung der Welt und der Geschichte, sprach gegenüber Freunden von „Next Level Shit“. Erst nach und nach offenbarten sich teils eklatante Schwächen.

Outlaws on the run

Mit einer ausführlichen Inhaltsangabe will ich euch angesichts des Medien-Overkills zu RDR2 verschonen. (Überhaupt: Ich werde euch hier wohl nichts wirklich Neues erzählen können. Aber 100 Spielstunden sollten zumindest für einen längeren Text gut sein.) Die grobe Rahmenhandlung: Der Nachfolger des 2010 erschienenen Red Dead Redemption spielt zeitlich vor dem ersten Teil, erzählt die Geschichte der Van-der-Linde-Gang, die sich im Jahre 1899 durch den Süden und Südosten der USA schlägt. In Gestalt von Arthur Morgan reitet, prügelt und schießt sich der Spieler durch mehrere fiktive Staaten, die an die Louisiana, Texas und Mississippi angelehnt sind und alle nur denkbaren Landschaftsformen – karge Steppen, öde Wüsten, verschneite Berge, verschlammte Sümpfe – abbilden.

Über RDR2 gibt es genug zu sagen, um Bücher zu füllen (was sicherlich auch noch passieren wird). Ich fange an dieser Stelle – entgegen der üblichen Regel – aber nicht mit den Stärken, sondern den erwähnten Schwächen an. Zuvorderst wäre da die überladene Steuerung, bei der jeder Knopf mit doppelter bis dreifacher Belegung daherkommt, was selbst nach dutzenden Spielstunden noch zu Problemen führt: Da will man nur auf sein Pferd aufsteigen, steht aber etwas zu weit entfernt und hat plötzlich den Hals eines Passanten im Würgegriff.

Dann sind da erzählerische Makel, die vor allem in den Nebengeschichten und -figuren spürbar werden. Darunter leidet zuweilen die Glaubwürdigkeit des Protagonisten: Während man in einer Mission noch Tierquäler verjagt, erscheint wenig später eine Sub-Quest, laut der man drei Hasen mit dem Pferd tot trampeln muss. An anderer Stelle muss eine Figur aus der eigenen Gefolgschaft gerettet werden, die zuvor jedoch kaum Präsenz bekommen hat, weshalb sie einem reichlich egal ist.

Erstarrt in alten Strukturen

Das größte Problem aber ist das Missionsdesign. Ja, es gibt viele spannende, abwechslungsreiche und kreative Missionen. Vielfach bestehen die Quests aber lediglich aus einem längeren Ritt gefolgt von einer Schießerei (bei der man ob der Gegnermassen eigentlich ganze Kleinstädte ausrotten müsste) und einem Rückritt. Rockstar Games verharrt hier in einer althergebrachten, nicht mehr ganz zeitgemäßen Missionsstruktur aus Bewegung-Action-Bewegung. Einzig die Schauplätze und die zwischenzeitlichen Dialoge können das halbwegs kaschieren.

Zu den weiteren kleineren Schwachpunkten zählen überdies ein schneller Geldüberschuss, mit dem man nichts anzufangen weiß, sowie die Möglichkeit, neues Equipment für das Bandenlager anschaffen, was allerdings kaum Mehrwert birgt. Kritikpunkte gibt es ausreichend – sie gehen angesichts der Masse an guten bis großartigen Punkten allerdings gnadenlos unter. In einigen Aspekten setzen die Entwickler, das kann man bedenkenlos festhalten, ganz neue Maßstäbe.

Was ihre große Expertise betrifft – die Gestaltung einer glaubhaften Welt – ist RDR2 der Perfektion ziemlich nah. Nicht nur ist die Welt abwechslungsreich, beherbergt unzählige Geheimnisse, sehenswerte Orte und kleine obskure Geschichten, die über die Umgebung erzählt werden. Auch die Übergänge zwischen den einzelnen Biotopen sind glaubwürdig. Tier- und Pflanzenwelt strotzen vor Vielfalt. Die menschliche Bevölkerung ist nicht minder variantenreich. Und dann wäre da auch noch dieses zwar rudimentäre, aber sehr gut funktionierende neuartige Dialogsystem, das es erlaubt, mit jedem NPCs in der Welt kurze Gespräche zu führen. Thema Abwechslung: Jagen, Angeln, Raubüberfälle, Schatzsuche, Kopfgeldjagd, Kochen, Glücksspiel und diverse weitere Nebenaufgaben bilden das gesamte Spektrum an Aktivitäten ab, die man sich im Wilden Westen vorstellen kann.

Detailverliebte Revolverhelden

Gekleidet ist das alles in ein optisches Gewand, das technisch und ästhetisch seinesgleichen sucht. Das überzeugt sowohl im Großen (atemberaubende Lichtstimmung und Panoramen) als auch im Kleinen (für jeden noch so winzigen Mist gibt es eine ausgearbeitete Animation). Details lassen sich an jeder Ecke finden, seien es Arthurs Bartwuchs, seine Erschöpfung nach längerem Pfeifen oder dass sich Pferde erleichtern, wenn sie einige Minuten herumstehen. Und dazu noch dieser herrliche Soundtrack, der meist subtil im Hintergrund dudelt, in den wichtigen Moment aber markant in den Vordergrund tritt.

Das dritte große Standbein von RDR2 ist seine Geschichte, vielmehr noch die Figuren, um die sie sich dreht. Die Van-der-Linde-Gang besteht aus gut 20 Individuen, deren Zusammensetzung zwar etwas forciert anmutet (da sind ein Schwarzer, ein Native American, ein Ire, ein Mexikaner, ein Priester, ein Österreicher, etc.), von denen die meisten aber entweder interessant, sympathisch oder beides sind. Was auch daran liegt, dass sich das Spiel enorm viel Zeit für kleine Momente wie Feiern oder Dialoge nimmt, die zwar für die Handlung irrelevant sind, aber die Figuren extrem gut formen. Das macht sie menschlich und greifbar. Und lässt das Gefühl, einer Bande, einer echten Gemeinschaft anzugehören, voll zur Geltung kommen.

Beendete der Vorgänger mit seinem Finale endgültig die Zeit der Western- und Revolverhelden, porträtiert RDR2 eine Periode, in der sich diese Zeit erst langsam ihrem Abschluss zuneigt, während ihre letzten verbliebenen Protagonisten noch verzweifelt Widerstand leisten. Die Welt und speziell Amerika sind im Wandel. Das sind sie zwar immer – doch wie immer ist nicht jeder damit glücklich. Vor allem nicht die Robin-Hood-esken Outlaws, die von der nahenden Zivilisation existenziell bedroht werden. Gegen Ende der Geschichte werden gar Parallelen zu den Ureinwohnern gezogen, vor allem aber handelt RDR2 vom Konflikt zwischen Integrität und Assimilation. Da ist ein Haufen Gesetzloser, der sich partout nicht anpassen will oder es nicht kann. Und wer es doch versucht, den holt seine Vergangenheit gnadenlos ein.

Dekonstruktion amerikanischer Werte

Im Mantel eines klassischen Spätwestern werden dabei zahlreiche moralische und historische Aspekte angerissen, die sich als Dekonstruktion amerikanischer Grundwerte wie Pragmatismus, Freiheit, Arbeit, Fortschritt und Wachstum lesen lassen. Stets bewegt man sich in moralischen Grauzonen – und zum Glück verzichtet das Spiel dabei auf die plakativen Satire eines GTA, lässt stattdessen ordentlich narrative Substanz erkennen. Nichtsdestotrotz kommt der Humor nicht zu kurz. Und eigentlich unnötig zu erwähnen, dass das alles großartig geschrieben (Liebeskranker Irrer: „Everybody has his secrets.“ – Arthur: „And you’re secretly normal?“) und inszeniert ist.

Nun bin ich also am Ende – und verspüre etwas, das ich nur bei richtig großen, mitreißenden Werken fühle: eine wohlige, innere Leere, die der Tatsache geschuldet ist, dass das Abenteuer vorbei ist. Wobei: RDR2 ist noch längst nicht vorbei, es warten die 100-Prozent-Marke und der Online-Modus. Bleibt festzuhalten, dass es trotz der erwähnten Schwächen eine unvergessliche Reise durch eine wunderschöne Welt war, in der ich mich zuhause und geborgen fühlte. Die für immer einen Platz in meinem Herzen und meinem Kopf haben wird. Wer die anfangs erwähnte Sünde begeht und mit aller Macht durch das Spiel eilt, der missachtet dessen größte Stärke: Eine glaubwürdige, immersive Welt zu inszenieren, die ihre größte Wirkung entfaltet, wenn man sich ihr hingibt, sie Stück für Stück erkundet, ihre Regeln akzeptiert und ihre Entschleunigung zu genießen weiß.

Ja, RDR2 ist ein Blender. Allerdings einer, der auch dann noch strahlt, wenn man sich an das grelle Licht gewöhnt hat. Falls es jemals einen dritten Teil geben sollte, bleibt zu hoffen, dass Rockstar Games‘ spielerische Ambitionen dann auch mit ihren narrativen mithalten können.

Bilder: (c) Rockstar Games

7 Kommentare zu „Gespielt: Red Dead Redemption 2 Hinterlasse einen Kommentar

  1. Woah, ein Game Review! Sehr cool. Ich hab auch zum Release begonnen und hänge noch in Kapitel 3 fest. Und ich war seit Skyrim nicht mehr so tief in einem Spiel drinnen. Es ist schlichtweg grandios, welch lebendige Welt sich da vor einem entfaltet. Die Story verkommt da fast zur Nebenhandlung. Aber jetzt eine (spoilerfreie) Frage: lässt einen Rockstar nach dem Ausspielen noch in die Welt raus? Sprich, gibt es einen Free-Roam-Modus?

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    • Ist nicht meine erste Spielereview hier 😉
      Ich beneide dich gerade ein wenig, weil du noch so viele tolle bis großartige Momente vor dir hast ^^
      Um deine Frage zu beantworten: Ja, wenn die Story durch ist, kannst selbstverständlich noch die Welt durchstreifen und alle unerledigten Aufgaben erfüllen. Allerdings empfehle ich, möglichst viele Nebenaufgaben zwischendurch zu erledigen, vor allem die „Fremden“-Missionen, die Weiß markiert sind.

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  2. Ich bin immer noch dabei, es zu spielen 😀

    Aber ja, es ist schon ein wunderschönes Spiel. Das schönste Pferde-Spiel für Jungs. Ich habe immer noch mein Pferd, dass ich mir zu Beginn des Spiels ja kaufen musste – und das wird gestriegelt, gepflegt, frisiert, gefüttert, gestreichelt, mit neuem Sattel alle paar Missionen ausgetauscht. Was für Mädchen Wendy und Co ist, ist für Jungs Red Dead 2 😀

    Ich gebe dir aber auch gerade bei den Missionen echt recht. Irgendwann ist es wirklich sehr „öde“. Reite da hin, warte kurz, schieße und nimm am Ende noch irgendwen mit oder klaue noch irgendwas. Wenn das Spiel nicht so verdammt toll wäre, wären diese Missionen echt eine Qual.

    Und das mit dem Geld stimmt auch. Mittlerweile habe ich schon alles fürs Lager ausgegeben und trotzdem immer noch einen Haufen Kohle im Sack. Aber man muss sich ja auch gefühlt nichts kaufen. Hunger? Kein Problem, schieß ich mir ein Reh. Munition? Kein Problem, plünder das Waffenarsenal im Lager oder nimm es von den Toten. Neue Waffen? Wozu? Ich benutze eh nur die gleichen zwei Revolver und die gleichen zwei Gewehre, die ich schon seit Ewigkeiten benutze… 😀

    Aber das ist schon meckern auf hohem Niveau. Es ist trotzdem einfach nur toll. Mal gucken, wann ich durch bin, dann werde ich es vielleicht mal in meiner „Random Sunday“-Rubrik erwähnen 😀

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    • Hunger und Co. sind vor allem deshalb kein Problem, weil man sich einfach nur schlafen legen muss und alles ist wieder aufgefüllt. Das macht das gesamte Crafting obsolet, eigentlich braucht man es nur für Nebenaufträge.
      Wie weit bist du denn aktuell?

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      • Mittlerweile ist die Gang in so ein altes Haus eingezogen und gerade suche ich mit Dutch in St. Denis einen kleinen Jungen. Bin ich da dem Ende schon nahe? 🙂

        Ja. Stimmt. Das man sich einfach nur schlafen legen muss, macht wirklich alles andere unnötig. Aber na gut… so tragisch ist es ja auch nicht. Es ist trotzdem immer noch ein tolles Spiel.

        Hat für mich immer was fast schon meditatives. Erinnert mich auch ein wenig an dieses Mad Max Open World, das vor ein paar Jahren erschien. Das war auch etwas eintönig von den Mission, gespielt habe ich es trotzdem gerne

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      • Dem Ende nahe? 😄 Noch lange nicht, eher kurz vor der Hälfte.
        Meditativ ist eine sehr gute Beschreibung. Ich liebe es, dass nicht überall Items auf der Karte aufploppen, dass man sich Zeit nehmen kann und muss, dass alles ein wenig länger dauert als in anderen Spielen.

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      • Erst die Hälfte? 😀 Verrückt…

        Das mit dem Nicht-Aufploppen von Items stimmt. Das macht mich immer irre bei anderen Spielen, weil ich dann einfach auch das Gefühl habe, alles abarbeiten zu müssen 😀

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