Leto

Kirill Serebrennikov, RUS/FRA 2018
Leto – Sommer. Genau genommen ein Sommer im Leningrad der frühen 80er Jahre. Eine Zeit, in der der gesellschaftliche Umbruch in der Sowjetunion noch nicht eingeleitet, aber schon spürbar ist. Eine Zeit, in der junge, wilde Musiker ihrem Drang nach kreativer und persönlicher Freiheit Luft machen wollen. Die Idole ihre Landes heißen Marx, Engels, Lenin. Ihre heißen Iggy Pop, The Sex Pistols, David Bowie. Klar, dass sie damit ein ums andere Mal mit den Grenzen des Systems in Konflikt geraten.
Doch Punk wäre nicht Punk, würde er diesen Konflikt scheuen, nicht geradezu anstreben. Und doch sind die Hauptfiguren von Leto – dem jüngsten Film des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov – nicht nur von blankem Protest getrieben. Denn wozu Musik machen, wenn sie nicht gespielt werden darf? Wozu subversive Kunst schaffen, wenn sie an der staatlichen Zensur zerschellt? Dieses Spannungsfeld bildet das Herz dieses Films.

Serebrennikov kennt dieses Problem nur zu genau, wurde er doch im August 2017 wegen angeblicher Veruntreuung von Fördergeldern festgenommen und unter Hausarrest gestellt. Und verpasste die dadurch Premiere seines eigenen Films in Cannes. Anfang der Woche wurde Serebrennikov aus dem Hausarrest entlassen – und nun, nur wenige Tage später, ist sein Film fürs Heimkino erschienen.
Vor diesem Hintergrund erhält Leto eine zusätzliche Bedeutungsebene – auch wenn er die gar nicht bräuchte. Denn die Geschichte der Musiker Mike (Roman Bilyk) und Viktor (Teo Yoo) sowie ihrer Bands ist auch so mehr als sehenswert. Der erste ist längst eine lokale Berühmtheit, spielt regelmäßig im örtlichen Rockclub, wo das Publikum jedoch zu bravem Stillsitzen aufgefordert wird. Selbst das Hochhalten von Fanschildern wird hier sanktioniert – eine Qual für jeden Punk. Viktor gehört zum Typus „Aufstrebender Jungmusiker“: ein großes Talent für Melodie und Texte, das noch nicht ganz seine Stimme gefunden hat. Irgendwann entwickelt sich gar eine kleine Romanze zwischen Mikes Frau und Viktor. Und doch bleibt der große Konflikt zwischen beiden Handlungsträgern aus. Schließlich eint sie ein gemeinsamer Gegner. Und die Liebe zur Musik.
Serebrennikov gießt diese komplexen und wilden Gefühls- und Lebenswelten in tristes Schwarz-Weiß, dass er allerdings immer wieder formal durchbricht. Mal setzt er auf Farbe, mal bedient er sich sogar am Musicalfilm und würzt diese herausstechenden Szenen mit der Ästhetik früher MTV-Videos in Form wunderschöner Zeichnungen. Jedoch nicht, ohne sich im Anschluss direkt an den Zuschauer zu wenden und darauf hinzuweisen, dass die Prügelei mit einigen Ordnungshütern oder der ekstatische Ausbruch im Rockclub so nie passiert seien.
Serebrennikov verliert gelegentlich die Handlung aus dem Blick, nie aber seine Figuren. Getragen durch die großartige Musik vergehen zwei Stunden wie im Flug. Es ist ein bewegender Flug voller Höhen und Tiefen.
Dieser Text erschien zuerst in der Leipziger Volkszeitung.