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The Irishman

Martin Scorsese, USA 2019 – Ob Martin Scorsese das Angebot, seinen nächsten großen Mafiafilm von Netflix finanzieren zu lassen und in voller Länge zu veröffentlichen, wohl zähneknirschend oder freundenstrahlend angenommen hat? Man kann nur mutmaßen. Denn eigentlich gehören die Filme dieses Mannes, der Genreklassiker wie Hexenkessel, Casino und GoodFellas inszeniert hat, eigentlich ins Kino, oder? Nun kann man es – rein aus Prinzip – einerseits bedauern, dass The Irishman es nicht wirklich auf die große Leinwand geschafft hat. Zugleich kann man aber auch froh darüber sein, nicht 209 Minuten, also dreieinhalb Stunden (plus Werbung) im Kinosessel hocken zu müssen, sondern dieses womöglich letzte große Oldschool-Gangster-Epos gleich auf der heimischen Couch genießen zu können. Und dass dieses Meisterwerk auf einen Schlag einer gewaltigen Zuschauerschaft zugänglich wird.

Der Plot bewegt sich auf vertrautem Terrain: Erzählt wird die Geschichte von Frank Sheeran (Robert De Niro), einem Fleischlieferanten, der im Amerika der 1950er in Kontakt mit der Mafia kommt und sein schmales Gehalt zunächst durch kleinere Gefälligkeiten aufbessert. Russel Bufalino (Joe Pesci) entwickelt sich dabei zu seinem neuen Ziehvater, ebenso der Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa (Al Pacino), der 1975 unter mysteriösen Umständen verschwand und sieben Jahre später für tot erklärt wurde. (Dass Sheeran, der Hoffa im Auftrag der Mafia zunächst „Aushilfe“ leistet, mit diesem Verschwinden zu tun hat, lässt sich bereits erahnen.) So steigt Sheeran im Laufe der Handlung langsam in der Hierarchie auf, gleitet mehr und mehr in moralische und juristische Abgründe ab, verliert zugleich jedoch mehr und mehr den Bezug zu seiner Familie, vor allem zu Tochter Peggy (Lucy Gallina, später Anna Paquin). Seine neue Familie wird die Mafia, und doch bleibt Sheeran seiner Berufung treu: Früher kümmerte er sich um tote Rinder, heute um tote Menschen. Oder, wie er es nennt: Er streicht Häuser.

Al Pacino und Robert De Niro in „The Irishman“ (c) Netflix

The Irisman ist pure Retromanie. Scorsese schließt hier an seine alten Qualitäten an, serviert dem Publikum ein „Best-of Mafiafilm“, hat er dieses Genre in den vergangenen Jahrzehnten doch wie kaum ein zweiter geprägt. Referenzen und Rückbezüge sind deshalb an jeder Stelle zu finden. Nicht nur inhaltlich und beim Blick auf die Castingliste (auf der auch Namen wie Harvey Keitel, Bobby Cannavale, Stephen Graham oder Steven van Zandt stehen), sondern auch ästhetisch. Bereits die allererste Einstellung – eine langsame Kamerafahrt durch das Altersheim, in dem der gealterte Frank Sheeran residiert und von wo aus er seine Geschichte erzählt – weckt Erinnerungen an die legendären Tracking-Shots aus Casino & Co. Inszenatorisch wirkt The Irishman dadurch zwar konventionell, erfüllt dabei aber höchste Standards. Das schließt auch die digitale Verjüngungskur für De Niro, Pesci und Pacino ein, durch die man trotz zahlreicher Zeitsprünge stets den Überblick behält: Den Darstellern kann man hier allein am Gesicht ablesen, in welchem zeitlichen Abschnitt man sich gerade befindet.

Denn – das erinnert ebenso an GoodFellas, Casino und Hexenkessel – auch The Irishman erstreckt sich über einen großen Zeitraum, ein halbes Menschenleben mindestens. Und in dieser Zeit geschieht viel – sehr viel. Unzählige Figuren betreten die Bühne und verlassen sie wieder, oftmals schneller, als ihnen lieb ist. Frank Sheeran hat viel zu erzählen, seine Gesichte wird gern aus- und abschweifend, gelegentlich auch abenteuerlich-skurril. Etwa dann, wenn er behauptet, die US-Soldaten, die in der Schweinebucht einfielen, mit Waffen ausgestattet zu haben. Oder wenn es um den Einfluss der Mafia auf die Präsidentschaftswahlen geht. Dass The Irishmanaus einer fixen Perspektive erzählt ist, erweist sich also als große Stärke, wird so doch der subjektive Anstrich der Handlung offen gelegt. Damit einher geht aber auch eine altbekannte Schwäche Scorseses: das übermäßige Erzählen aus dem Off.

Kritik muss sich der Film auch aufgrund seiner Länge gefallen lassen. Zwar bietet The Irishman mit seinem komplexen Gespinst aus Beziehungen, seiner zeitlichen Dimension und seiner historischen Relevanz (zumindest der, die er behauptet) genug Material, um diese Laufzeit zu rechtfertigen – und um ihm den Anstrich einen Scorsese’schen Once Upon a Time in America zu verpassen. Meist stimmt zudem, trotz aller Bedächtigkeit, Spannungsarmut und ausschweifender Dialoge, auch das Erzähltempo. Doch eben nicht immer: So fühlen sich die letzte Stunde und insbesondere der Epilog reichlich zäh an. Dem Endschnitt hätte da eine intervenierende Kraft jedenfalls gut getan.

Was The Irishman ebenfalls nicht gelingt: neue Impulse im Genre zu setzen. Dieses Best-of fühlt sich tatsächlich wie ein Best-of an. All die bekannten Zutaten – die Darsteller, die Kamera, das Feeling, die Narration – sind da. Und sie großartig. Aber irgendwo und irgendwie hat man das alles schon mal gesehen. Und doch hebt sich The Irishman zumindest in einer Hinsicht von Scorseses früheren Werken ab: Er zieht einen Schlussstrich unter das Genre. Hier werden die Gangster nicht mehr glorifiziert, vielmehr wird ihr allmählicher Niedergang in aller Ausführlichkeit porträtiert. Am Ende sind alle tot, entweder erschossen oder im Vollzug gestorben. Nur Frank Sheeran ist noch übrig. Sich rechtfertigend und einsam sitzt er in seinem Zimmer, bittet darum, die Tür doch einen Spalt offen zu lassen. Völlig endgültig ist dieser Schlussstrich dann zwar doch nicht. Trotzdem ist The Irishman ein Abschied von einer Zeit, in der privilegierte weiße Männer noch den Ton angaben und keine Konsequenzen fürchten mussten. Oder zumindest der Wunsch desselben.

Bilder & Trailer: © Netflix

11 Kommentare zu „The Irishman Hinterlasse einen Kommentar

  1. Der hat es doch geschafft, ins Kino zu kommen. Gut natürlich nur vereinzelt, aber er wurde vor dem Netflix-Start knapp vier Wochen im Kino gezeigt (auch hier in Deutschland für 2 Wochen exklusiv) und läuft auch noch weiter im Kino. Was ich gehört habe, waren die Vorstellungen auch weitgehend ausverkauft.

    Ich habe ihn jetzt das zweite Mal (dieses Mal normal auf Netflix) gesehen und muss sagen, dass er mir jetzt noch einen Tick besser gefällt. Auch, weil ich wusste, worauf Scorsese am Ende aus war. Für das Leben das Frank Sheeran führte, musste er am Ende einen hohen Preis zahlen. Dahingehend habe ich bei der Zweitsichtung besonders auf seine Tochter geachtet, die ja einen essentiellen Part in der Geschichte einnimmt. So wie er den Film hier inszeniert (vor allen Dingen mit dem Ende) hat er noch keines seiner Werke abgeschlossen. Wirklich, wie Du sagst, er zieht einen Schlussstrich unter das Genre und setzt – in meinen Augen – auch ein Ausrufezeichen dahinter.

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    • Stimmt, korrekterweise hätte ich wohl von einem großen oder regulären Kinostart schreiben sollen, den es nicht gab… Nein ehrlich, auch wenn er in einer Handvoll Kinos lief (in Deutschland waren es meines Wissens nur etwas mehr als ein Dutzend) ist das m.E. wenig mehr als ein Feigenblatt, der vor allem einer Oscarnominierung dienen soll. Vor einigen Jahren wäre das noch undenkbar gewesen, dass ein Scorsese nicht mindestens in 300 Kinos oder mehr startet. Insofern: Ja, er lief im Kino, aber der Schwerpunkt liegt doch deutlich auf dem Streaminggeschäft.

      Dass der Film beim zweiten Mal noch einige zusätzliche Facetten bietet, glaub ich sofort. Ich werde ihn mir zeitnah auch nochmal antun 🙂

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      • Klar, vordergründig war Netflix wegen der Oscars an der Kinoauswertung interessiert. Dann lassen sie ihre Filme aber auch in anderen Ländern im Kino spielen. Etwas undurchsichtig, eigentlich ist denen das Kinogeschäft recht schnuppe, was ich persönlich ja sehr schade finde. Obwohl kürzlich haben die ein Kino in New York übernommen, was wiederum sehr löblich ist, da diese legendäre Location ansonsten geschlossen bliebe. Alles etwas mysteriös bei Netflix, was genau deren Strategie in der Zukunft ist, Zahlen, weder wieviel Kinos eingesetzt, noch wie viele Besucher ihre Filme im Kino machen und Abonnenten ihre Filme sehen, geben sie leider nicht raus.

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      • Nun gut, das Kino ist für Netflix ja auch eine weitere Einnahmequelle. Wenn 30 Millionen Menschen The Irishman per stream schauen, verdienen die damit keinen Cent mehr, als wenn es nur 1 Mio. wären. Aber 100.000 Kinozuschauer? Da kommt noch was bei rum… Und bei Irishman war ja zu erwarten, dass der ein Publikum im Kino findet.

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      • Sie müssen aber auch die Kinobetreiber dafür bezahlen, dass sie ihre Filme spielen. Ich weiß nicht, ob da so viel am Ende rumkommt. „The Irishman“ ist aber natürlich auch ein Film, der im Kino noch mal eine besondere Strahlkraft hat. Ich finde es schade, dass den meisten Zuschauern diese Option genommen wird.

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      • Es werden halt Deals gemacht, Kürzlich weiß ich bei „Parasite“ hat ein Kinobetreiber beispielsweise verlangt, den Film in seinem Raum für die ersten paar Wochen nach Kinostart exklusiv spielen zu dürfen. Kein anderer Kinobetreiber durfte den Film einsetzen. Und das war ein Film, den ALLE Arthause-Kinos spielen wollten.

        Kinobetreiber müssen bei der Masse der Filme (auf deutschen Kinoleinwänden starten mehr als 600 Filme im Jahr und dabei wurden in den letzten Jahren viele Kinos geschlossen) genau DEN einen Film auch einsetzen wollen. Die Programmplätze werden also weniger. Beispielsweise müssen alle filmgeförderten Filme ins Kino gebracht werden, daher gibt es auch im Vergleich so unfassbar viele deutsche Filme im Kino. Ein Film, der schon 2, 3 oder 4 Wochen später auf dem Netflix zu sehen. Ist, ist da für Kinobetreiber wahrscheinlich nicht sehr weit oben auf der Liste, einen der begehrten Programmplätze zu ergattern. Im Moment treffen mit der Institution Kino und Netflix noch Welten aufeinander, aber irgendwie müssen die sich irgendwann mal einigen.

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