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American Factory

Steven Bognar & Julia Reichert, USA 2019 – Was kann der diesjährige Oscar-Gewinner im Berich Dokumentation? So einiges. Vom Beginn sollte man sich dabei nicht verschrecken lassen: American Factory wirkt anfangs wie ein Werbefilm für ein chinesisches Unternehmen namens Fuyao, das sich Anfang der 2010er in Ohio ansiedelt, nachdem die dortige General-Motors-Niederlassung ihren Pforten aufgrund der Finanzkrise schließen musste. Tausende verloren ihre Jobs – und können ob des ausländischen Investors nun wieder Hoffnung schöpfen. Das geht auch einige Jahr gut. Doch alsbald stapeln sich die Probleme in der Fabrik, in der nun Scheiben für Autos hergestellt werden sollen.

Diese Probleme betreffen einerseits den Lohn (Fuyao zahlt nur etwa halb so viel, wie zuvor GM) sowie den Arbeitsschutz, der unter der neuen Firmenleitung sehr locker genommen wird. Andererseits das Thema Gewerkschaft: Der chinesische CEO, der in diesem fast zweistündigen Streifen erstaunlich präsent ist, unternimmt nämlich alles mögliche, um die Gründung einer solchen zu unterbinden. Die behindere ja schließlich die Produktivität.

American Factory zeigt eindrücklich, was geschieht, wenn zwei Systeme mit demselben Wirtschaftsprinzip – Liberalismus – aber unterschiedlichen Werten – Individualismus versus Kollektivismus – aufeinander prallen. Die Erkenntnisse speisen nicht aus Off-Kommentaren oder großen Theorien, sondern einzig aus den Bildern und den darin porträtierten Menschen, die der Film ausführlich und über Jahre hinweg zu Wort kommen lässt. Er zeigt Freundschaften zwischen Amerikanern und chinesischen Gastarbeitern, ebenso wie unverblümten Rassismus auf beiden Seiten. Er zeigt die – für unsere Augen – ungewöhnlichen Gebräuche, die es auf der Fuyao-Jahresabschlussfeier in Shanghai zu erleben gibt (welche westlichen Firmen haben schon ihre eigenen Lieder und Tänze?). Und er zeigt, wie aus der anfänglichen Hoffnung bald ein beinahe diktatorisch geführtes Unternehmen wird, das an jeder Ecke Einsparungen vornimmt, um seine Vormachtstellung auf dem Weltmarkt zu bewahren.

Was klein beginnt, entwickelt sich also allmählich zu einer wesentlich größeren, systemischen Betrachtung, deren kritische Kraft sich dank erstaunlich intimer Einblicke und einer nüchternen Inszenierung geradezu organisch ergibt. Natürlich kann American Factory nur einen kleinen Ausschnitt abbilden. Doch niemals hat man den Eindruck, dabei manipuliert zu werden. Ganz im Gegenteil.

Bild & Trailer: © Netflix

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