Systemsprenger

Nora Fingscheidt, DEU 2019 – Was auch immer da schief (oder richtig) gelaufen ist: Dass Systemsprenger bereits eine Woche vor seinem DVD-Start auf Netflix gelandet ist, dürfte der Aufmerksamkeit, die diesem Film zuteil wird, jedenfalls mehr als gut getan haben. Und das kann man nur begrüßen, denn tatsächlich ist dieses Coming-of-Age-Drama ein ungemein wichtiger Film, der in Zeiten zunehmender Polarisierung und Simplifizierung den schwierigen Weg wählt und nicht nach einfachen Lösungen oder Sündenböcken sucht. Sondern einer, der ein ungeheures Maß an Ambivalenz ausstrahlt und mit erstaunlich vielschichtigen Figuren operiert.
Die titelgebende Systemsprengerin ist ein neun Jahre altes Mädchen namens Benni (Helena Zengel), das aufgrund traumatischer Erfahrungen als Kleinkind und einer instabilen Familiensituation an Aggressionsschüben leidet und regelmäßig in Schreiattacken verfällt. Das ist extrem anstrengend – für das Publikum wie auch für die Menschen in ihrem Umfeld. Für ihre Lehrer, ihre Erzieher und das Jugendamt. Benni fliegt schon nach wenigen Tagen aus jedem Heim, in dem sie aufgenommen wird. Sie beleidigt, sie wütet, sie zerstört, sie stiftet Chaos. Und bringt dadurch das das Sozialsystem an seine Grenzen. Trotzdem wächst einem dieses junge Mädchen (nicht zuletzt dank der fantastischen Schauspielleistung von Helena Zagel) schnell ans Herz. Und auch den Leuten, die sich um sie kümmern, unterstellt der Film zu keiner Zeit eine böse Absicht, zeigt stattdessen, dass hier nur Menschen agieren, die allesamt ihre persönlichen Schmerz- und Belastungsgrenzen haben.
Während die meisten aber resignieren und bereits ein Intensivprogramm im Ausland vorschlagen, nimmt sich jedoch der Sozialarbeiter Micha (Albrecht Schuch) der Sache an und will mit einem dreiwöchigen Urlaub im Wald versuchen, Benni wieder in rechte Bahnen zu lenken. Dieser zweite Akt des Films gleicht einer emotionalen und empathischen Achterbahnfahrt, für das Publikum wie für die Protagonisten. Denn auch Micha ist nicht frei von Problemen und obwohl sich die beiden zu Beginn noch gut verstehen, kommt auch der junge Mann bald an seine Grenzen. Der Abschluss schließlich verweigert sich dem großen Happy End, aber auch der großen Tragödie und steht damit sinnbildlich für die moralische Ambivalenz, die Systemsprenger so herausragend macht. Dies ist kein einfacher Film, im Gegenteil: Er fordert heraus, strapaziert die Nerven und das Gemüt. Aber er ist verdammt nochmal richtig, richtig gut. Auch weil er deutlich macht, dass man selbst die schwierigsten Fälle in unserer Gesellschaft niemals aufgeben sollte.
Bild: © Kineo FilmProduktion
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Ja. Ein harter, aber verdammt guter Film. Der hat mich im Kino auch echt fertig gemacht. Systemsprenger ist die Art von Film, die so gut, aber auch so hart ist, dass ich nicht weiß, ob ich mir den noch ein zweites Mal anschauen könnte.
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Wahnsinnig anstrengend, aber auch einnehmend. Der lässt einen nicht so schnell los und was das Mädel und Albrecht Schuch machen ist schon bemerkenswert authentisch.
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Ich glaube auch, der jungen Frau steht eine herausragende Karriere bevor.
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Nee, das war nichts für mich. Ich hab ungefähr nach der Hälfte abgebrochen. Da muss man, glücklicherweise. auf Netflix nicht ganz so viel Durchhaltevermögen haben, wie im Kino. Dieses Kind hat mich wirklich aggressiv gemacht, aber vielleicht ist das auch durchaus die Intention der Regisseurin.
Auf jeden Fall ziehe ich meinen Hut vor allen Pädagogen und Sozialarbeitern, die sich mit solchen Problemfällen so intensiv beschäftigen.
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Absolute Zustimmung!
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Das war wohl auch die Absicht des Films, das Durchhaltevermögen des Publikums zu strapazieren. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich niemals so sehr genervt war, dass ich abschalten wollte. Irgendwie konnte ich diese Distanz halten, die in diesem Fall aber wohl schädlich ist..
Habe mich lustigerweise kürzlich mit einem Erzieher über den Film unterhalten und ihm hat er nicht gefallen. Er meinte, der Film sei nur damit beschäftigt, sich an der Systemkritik abzuarbeiten, anstatt die Figuren in den Mittelpunkt zu rücken. Die seien quasi nur Mittel zum Zweck…
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Die ersten Minuten fand ich schon so anstrengend, das ich leider abbrechen musste.. zum Glück geht das auf Netflix relativ flott, aber werde nochmal einen Versuch wagen, wenn ich wieder mehr Geduld habe 🙂
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Tu das – es lohnt sich! Und genau das ist wie gesagt auch ein bisschen der Punkt des Films, das Publikum zu strapazieren und die Erfahrung, die einige Pädagogen machen, nah zu bringen
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