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Der Schacht

El Hoyo, Galder Gaztelu-Urrutia, ESP 2019 – Man kann dem spanischen Regisseur Galder Gaztelu-Urrutia zumindest schon mal zu einer Sache gratulieren: Mit Der Schacht hat er den ersten großen Hype-Film des Jahres 2020 geschaffen. Sein Werk steht – glaubt man der Statistik des Streaming-Dienstes – seit mehreren Tagen auf Platz 1 der deutschen Netflix-Charts. Ganz von ungefähr kommt das nicht, denn das Gedankenexperiment, das Gaztelu-Urrutia hier aufmacht, ist fraglos interessant und vielversprechend.

Der Schacht ist ein ungewöhnliches Kammerspiel. Die titelgebende Struktur ist ein vertikales Gefängnis, in dem auf jeder Etage zwei Menschen inhaftiert sind. Einmal pro Tag fährt eine Plattform von ganz oben bis ganz nach unten. Darauf platziert: Ein reichlich gedecktes Büffet voller Köstlichkeiten, das auf jeder Etage für kurze Zeit verweilt. Die Gefangenen können sich bedienen – und natürlich bleibt nach 50 Stockwerken kaum mehr etwas übrig. Der Clou: Am Ende jedes Monats tauschen die Insassen ihre Position nach dem Zufallsprinzip. Wer sich gestern noch in den oberen Etagen laben konnte, kann morgen also bereits im 200. Stockwerk dem Hungertod nahe sein.

Dass Der Schacht eine Allegorie auf eine Gesellschaft sein will, in der vor allem der Zufall darüber bestimmt, ob man in Wohlstand oder in Armut aufwächst, und in der „die da unten“ nur von dem leben können, was von „denen da oben“ übrig gelassen wird – damit hält der Film nicht lange hinter dem Berg. Bereits nach zehn Minuten sind die Prinzipien des Schachts, seine Regeln und die soziologischen Implikationen umfassend erörtert. „Held“ dieser Geschichte ist Goreng (Iván Massagué), der sich für sechs Monate freiwillig in den Schacht begeben hat und zusammen mit einem älteren Herrn (Zorion Eguileor) in einer Zelle untergebracht ist. Was Goreng hier erlebt, geht alsbald über die Grenzen des Erträglichen hinaus und mündet in schwerer seelischer wie körperlicher (Selbst-)Verstümmelung.

„Der Schacht“ (c) Netflix

Zugleich drehen sich der zweite und dritte Akt vor allem darum, das System radikal zu verändern – „spontane Solidarität“ nennt das eine der Figuren, die später noch wichtig und dafür ausgelacht wird. Doch kann eine solche, geradezu Kafka-eske Struktur überhaupt geändert werden? Und wenn ja, welche Mittel sind dazu notwendig? Diese Gedankenspiele machen den größten Reiz von Der Schacht aus.

Gleichwohl – so muss man sagen – funktioniert die Allegorie nur teilweise. Problematisch ist unter anderem die regelmäßige, zufällige Umverteilung der Gefangenen, weshalb Menschen mit einem Mindset aus den unteren Stockwerken plötzlich ganz oben landen können – und umgekehrt. Und auch das Finale lässt durchscheinen, dass die prinzipiell interessante Idee nur zur Hälfte zu Ende gedacht wurde, weshalb man sich lieber in ominöser Vieldeutigkeit verliert.

Was Der Schacht auf metaphorischer Ebene allerdings wirklich schwer erträglich macht, ist das durch und durch pessimistische, gar zynische Gesellschaftsbild, das er zeichnet. Natürlich: Derartige Verbildlichungen abstrakter Ideen benötigen einen gewissen Grad an Überstilisierung. Und so ist zumindest garantiert, dass der Film beim Zuschauer eine Wirkung hinterlässt (und das gelingt ihm fraglos). Dass hier aber nahezu alle Figuren von einem widerlichen Egoismus getrieben sind, dass scheinbar keinerlei Moral existiert, diese nur durch einen „Auserwählten“ oder „Erlöser“ unter die Menschen gebracht werden kann, und dass Gewalt als probates Mittel für diese Botschaft legitimiert wird, ist – gelinde gesagt – schwierig. Als Allegorie ist Der Schacht deshalb zwar interessant, aber eben auch mangelhaft. Als filmisches Erlebnis funktioniert er hingegen deutlich besser.

Bilder: © Netflix

16 Kommentare zu „Der Schacht Hinterlasse einen Kommentar

  1. Inwiefern findest du die Struktur des Films Kafkaesk?
    Sonst muss ich sagen, dass der Film sich komplett an seinem Allegorie Ansatz verhebt und mehr sein will als er ist. Dadurch war mir das ganze nach dem guten ersten Akt viel zu egal.

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      • Der Begriff ist natürlich offen für eigene Deutungen und Assoziationen. Habe mich nochmal (auch weil ich selbst unsicher war) per Wikipedia schlau gemacht. Da ist von „Situationen und diffusen Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung“ die Rede, außerdem vom Ausgeliefertsein an „anonyme und bürokratische Mächte, der Absurdität, der Auswegs- und Sinnlosigkeit sowie Schuld und innere Verzweiflung“. Das trifft es in diesem Fall, wie ich finde, sehr gut.

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      • Okay, das stimmt schon. Da fällt mir aber eine sehr sehenswerte Kafkaverfilmung ein, Der Prozess von Orson Welles. Der ist aus den 60ern mit Anthony Perkins und ich meine Romy Schneider.

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  2. Ich wollte mir den Film eigentlich ansehen, doch deine Kritik offenbart, dass die Message viel zu sehr aufgedrückt daherkommt. Wenn das filmische Erlebnis trotzdem noch stimmig ist, würde ich dem Ganzen noch eine Chance geben. Könntest du mir eventuell erklären, was diesen Film so erlebnisreich macht?

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    • Das wird schwer, ohne zu spoilern ^^
      Ich sage mal so: Als filmisches Gesamterlebnis bin ich mit ihm durchaus glücklich geworden. Dramaturgie und Spannung funktionierten für mich sehr gut. Ästhetisch habe ich auch nichts auszusetzen. Und die Figuren haben durchaus ihren „Charme“, sind – trotz der unwirklichen Situation, in der sie sich befinden – nahbar. Wenn man ihn also als reinen Genre-Film sieht und die „Botschaft“ ausblendet, kann er auf seine Weise gut unterhalten.
      Ich würde deshalb auf jeden Fall dazu raten, ihm eine Chance zu geben – und sei’s nur, um dir deine eigene Meinung bilden zu können.

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  3. Ja… der Film will so intelligent sein, ist aber doch ziemlich plump in seinen Metaphern.

    Trotzdem fand ich ihn unterhaltsam. Irgendwie hatte der was, was mich schon bis zum Schluss gefesselt hat

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    • Eben das meine ich auch: Als Film selbst funktioniert er deutlich besser, als auf intellektueller Ebene. Ist in jedem Fall ein interessantes Werk, das man allein schon deshalb schauen sollte. Ob man ihn dann gut findet oder nicht, steht auf nem anderen Blatt 😉

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